Preisträger*innen, Preisträger*innen 2016

Die Glaswand | Judith Pallitsch

Preisträger 2016 | 18-25 Jahre

Die Glaswand

Nathalia steht wieder einmal vor dem Spiegel. Ich tue so, als würde ich sie nicht beobachten. Wie sie sich hin- und herdreht. Im Profil. Dann von vorne und natürlich von hinten. Mal die Lippen gespitzt, sodass ihre hohen Wangenknochen noch mehr zur Geltung kommen. Mal Schlauchbootlippen mimend. Alle paar Minuten hat sie ein anderes Outfit an und wiederholt aufs Neue dieses Ritual. Im Endeffekt zieht sie, vollkommen unzufrieden seufzend, wieder das erste Outfit an. Für mich sehen sie alle gleich auch. Kurz, eng und unbequem.

Ich widme mich wieder meinem Buch, finde aber nicht einmal die richtige Zeile. Schon lange weiß ich nicht mehr, worum es darin eigentlich geht.

Oder vielleicht habe ich es nie gewusst. Ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren. Alles scheint bei mir zur unwichtigen Nebensache geworden zu sein, während für Nathalia Kleinigkeiten die Welt bedeuten.

Nathalia und ich teilen uns seit unserem Umzug ein Zimmer. Wir wohnen in einem kleinen Reihenhaus am Rande irgendeines „gottverlassenen Dorfes“, wie Nathalia diese Kleinstadt immer nennt. Mir ist ziemlich egal, wo wir wohnen. Ich verbringe sowieso die meiste Zeit im Bett.

Unser Zimmer ist eigentlich das Wohnzimmer des Hauses. Der größte Raum im Erdgeschoß. Mit einem direkten Zugang zur Terrasse, die aus einer riesigen Glaswand besteht. Die gesamte hintere Hausfront wird von der verglasten Hintertür eingenommen. Mehrere fest verbaute Glasteile und eine große gläserne Doppelschiebetür. Wenn man nicht genau hinsieht, kann man gar nicht erkennen, was Wand und was Tür ist.

Die Terrasse verläuft eben zum Grundstück. Kein Hindernis also für einen Krankenwagen, der nun, nachdem mein Vater mühevoll die Einfriedung abgerissen hat, einfach über das Grundstück fahren kann. Gleich an meinem Zimmer angelangt, verlieren die Sanitäter so keine Zeit, sollte ich einmal wieder einen Anfall bekommen. Nathalia hat die Aufgabe immer aufzupassen, ob ich nicht über Nacht krepiere und im Falle des Falles die Rettung rufen. So haben sich das unsere Eltern gedacht.
Was unsere Eltern allerdings nicht wissen ist, dass Nathalia die verglaste Schiebetür vor allem dazu nutzt, um sich in der Nacht unbemerkt davonzuschleichen.

„Wie sehe ich aus?“
Ich betrachte Nathalia von oben bis unten. Sie trägt einen schwarzen Ledermini, blitzblaue Wildlederhighheels und ein goldenes Top.
„Wie eine Nutte.“

Nathalia  steigt das Blut in die Wangen. Ihre schwarz umrandeten Katzenaugen verengen sich zu schmalen Schlitzen und für einen Moment glaube ich, sie wird sich auf der Stelle in einen Puma verwandeln und mich anspringen. Stattdessen nimmt sie eines der vielen bunten Kissen, die überall verstreut am Boden liegen und wirft es in meine Richtung.
Nicht auf mich natürlich.
Sie wirft selbstverständlich absichtlich daneben, weswegen ich nicht einmal Anstalten mache auszuweichen.

„Wenigstens besteht mein Leben nicht aus auf-den-Tod-warten du Zombie! Aber das, was du da tust, kann man ja nicht wirklich ‚leben‘ nennen“, faucht sie voller Wut.
Im Gegensatz zu Nathalia bleibe ich regungs- und emotionslos auf meinem Bett sitzen. Das hat schon immer am besten funktioniert, um sie auf die Palme zu bringen.
„Ich verstehe. ‚Leben‘ bedeutet also halbnackt in der Gegend herumzurennen und sich jede Woche einen Schwangerschaftstest kaufen zu müssen“, bemerke ich trocken und nicke dabei vielsagend in Richtung Mistkübel.

Nathalias Kopf läuft hochrot an. Wütend greift sie nach ihrer Tasche, zieht sich eine Weste über und schiebt die Glastür auf.

„Nein. ‚Leben‘ bedeutet so viel Spaß wie möglich zu haben und das geht leider nur, wenn man aktiv dabei ist und nicht immer nur hinter Glaswand sitzt und zusieht wie eine Laborratte!“
Demonstrativ widme ich mich wieder meinem Buch, während Nathalia die Wand hinter sich zuschiebt. Ein eisiger Luftzug kommt mir entgegen. Draußen hat es sicher keine fünf Grad, aber Nathalia ist ohne Jacke losgegangen.
Als ich mir sicher bin, dass sie sich nicht umdreht, schleudere ich voller Wut mein Buch in die Ecke. Es rutscht langsam auf einer Holzdiele entlang und kommt für meine Emotionen viel zu sanft zum Stillstand.
Nicht einmal wütend sein kann ich.
Mindestens vier Mal pro Woche verschwindet Nathalia auf diese Weise. Ich bekomme das erst mit, seit sie mit mir in einem Zimmer wohnt. Davor hatte ich keine Ahnung. Davor dachte ich allen erstes, dass Nathalia in ihrem Zimmer sitzt und liest, genauso wie ich, und dann schlafen geht.

Und schon damals war ich eifersüchtig. Ich habe mir vorgestellt, sie würde schneller mit ihren Büchern fertig werden und danach sogar wissen, worum es geht. Heute bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt lesen kann, so vollgedröhnt wie sie manchmal heimkommt.

Ich wünschte, wir wären nie umgezogen. Ich könnte mir vormachen, dass es dieses „richtige“ Leben außerhalb von meinen vier Wänden nicht gibt. Ich würde Partys, Alkohol und Sex für Erfindungen des Fernsehens halten oder ich könnte mir zumindest einreden, dass es in dieser Familie für alle anders war.

Jetzt weiß ich, dass es nur für mich anders ist. Nur ich sitze hinter der Glaswand, alle anderen können hinaus. Und jeden Tag wird mir das von Nathalia vor Augen geführt. Manchmal würde ich diese verdammte Glaswand gerne einfach einschlagen, aber ich weiß natürlich, dass es nichts ändern würde. Sie ist bloß der Bildschirm, das mir das Leben und die Realität zeigt, die ich nie haben kann.

Ich fühle mich wie eine von diesen im Zoo aufgewachsenen, exotischen Tierarten. Vor allem dann, wenn ich Nathalia und ihr Freunde vorglühen sehe. Weil unser Haus auf einem kleinen Hügel liegt und die Glaswand so groß ist, sehe ich sie nämlich immer. Die Typen fahren mit ihren Autos hinter unser Haus, etwas weiter weg, wo die letzten Bäume eines kleines kleinen Waldes Schatten auf sie werfen. Es ist gerade so weit entfernt, dass die Musik, die sie aufdrehen, nur als leises Brummen wahrnehmbar ist, wenn man nicht di Fenster aufmacht, aber gerade so nahe, dass ich sie beobachten kann.

Nathalia trinkt dort mit ihren Freunden. Sie hat Spaß und das fast jeden Tag. Ich hingegen bin die seltene Schlange im Terrarium für die sich keine Sau interessiert.
Als ich mich aufrichte, um das Buch aus der Ecke zu holen, starre ich einen kurzen Augenblick durch die Wand. Nathalia stakst gerade hinunter zu ihrem Vorglühplatz, wo anscheinend schon jemand auf sie wartet, denn die Lichthupe eines Autos weiter entfernt geht an und bringt für einen Augenblick ihre kurvige Silhouette zum Vorschein.

Ich richte mich auf und stelle mich vor den Spiegel. Gegen Nathalia bin ich ein Essstäbchen aus dem Chinarestaurant. Überall steht irgendein Knochen hervor. Der Mensch hat 106 Knochen. Bei mir ist jeder einzelne zu sehen. Sogar mein Arsch ist knochig.

Frustriert lege ich mich zurück auf mein Bett und merke, dass ich total erschöpft bin. Ich nehme mein Buch und tue so, als würde ich lesen.
***
Es ist schweinekalt.
Aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich versuche mit den hohen Schuhen auf dem Gras möglichst gerade, aufrecht und sexy zu gehen. Zum Glück ist der Boden durch die Kälte etwas härter, sodass mir der Balanceakt leichter fällt.
Dort unten im Auto wartet Hannah mit zwei Typen. Wer genau gekommen ist, weiß ich nicht, ist mir auch ziemlich egal. Ich freue mich nur, wenn ich endlich im Auto sitze.

Ich versuche nicht zu zittern und meine Hüften beim Gehen so weit wie möglich zur Seite zu schwingen. Als mich die Lichthupe des alten BMW trifft, weiß ich, dass ich alles richtig gemacht habe.

Eigentlich bin ich verdammt müde. Ich war gestern schon unterwegs und erst bei Sonnenaufgang zu Hause, aber hier werde ich beachtet. Hier brauche ich nur einen kurzen Rock und hohe Schuhe. Zu Hause bräuchte ich eine unheilbare Krankheit.
Manchmal, wenn mir Hannah erzählt wie viel Ärger sie mit ihren Eltern hat, frage ich mich, warum meine nicht einmal wissen, dass ich fort bin. Ich denke eigentlich sogar, dass sie es wissen oder zumindest ahnen. Es kümmert sie aber einfach nicht. Andrea ist das kranke Kind. Das kleine Mädchen. Ich bin schon alt genug um auf mich selbst aufzupassen, sagen sie immer. Seit ich zwölf bin, bin ich alt genug.

Oft sehe ich bei meinem Weg hinunter zu meinen Freunden zu unserem Haus zurück auf das Fenster im ersten Stock, dort wo sich das Elternschlafzimmer befindet. Das ist das einzige, was mich an einem Abend wie diesem wirklich interessiert. Ob sie die Augen verschließen und mich wie immer gar nicht beachten oder ob sie zusehen und es ihnen trotzdem egal ist. Sie sollen es sehen. Sie sollen zusehen und merken, was sie aus mir machen.

Ich öffne die Beifahrertür des rot lackierten Autos und mir steigt sofort ein markant süßlicher Geruch in die Nase. Warum musste Hannah immer die Kiffertypen aufreißen? Mit denen konnte mach so gut wie gar nichts anfangen. Demonstrativ beuge ich mich zuerst nach hinten zu Hannah und gebe ihr einen Kuss auf den Mund.

Da Hannah für sich und ihren Typen die Rückbank reserviert hat, steigen ich und Markus, nachdem fast alles leergetrunken ist, aus. Trotz Alkohol ist mir noch immer scheißkalt und dieser Idiot macht keine Anstalten mir seine Jacke zu geben. Ich schaue hoch zu unserem Haus.

Das Licht im oberen Stockwerk ist an. Ich sehe die zierliche Silhouette meiner Mutter am Fenster und bin mir fast sicher, dass sie mich von dort sehen kann. Aber plötzlich wird der Vorhang zugezogen und mein Blick wandert einen Stock tiefer.
Andrea sitzt noch immer auf ihrem Bett und liest. Von hier aus sieht sie aus, wie eine Porzellanpuppe, mit ihrer blassen, fast weißen Haut. Zerbrechlich, aber wunderschön. Dagegen sehe ich aus wie eine schmutzige Nutte.
Ich schlucke diesen Gedanken mit dem letzten brennenden Inhalt meines Bechers hinunter und werfe diesen ins Gras. Endlich wird mit etwas wärmer. Ohne dass ich es gemerkt habe, hat mich Markus an einen Baumstamm gedrängt. Er küsst mich. Seine Zunge schmeckt nach Bier und Rauch.
Immer dichter drängt er sich an mich. Seine Hände wandern von meinen Brüsten über die Taille an meinen Arsch. Noch einmal sehe ich hoch zum oberen Stockwerk unseres Hauses. Ich glaube zu erkennen, wie der Vorhang einen Spalt weit aufgeschoben wird und muss lächeln.
***
Das rhythmische Dröhnen der Bässe hat vor einigen Minuten aufgehört. Es ist stockfinster. Ich sitze noch immer auf meinem Bett und halte mein Buch. Nathalia ist heute wiedereinmal spät dran. Ich blicke hinaus und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen, aber da ist nichts außer schwarze Nacht.
Dann höre ich ein leises Knacksen von draußen und plötzlich sehe ich eine Gestalt an der Grenze zu unserem Grundstück wanken. Sofort stehe ich auf und schiebe die Glaswand beiseite. Die kalte Luft schnürt mir die Kehle zu. Nathalia kommt unsicheren Schrittes auf mich zu. Sie hat Mühe mit ihren Schuhen nicht zu fallen, so betrunken ist sie.

Ich wende mich ab und nehme die übergroße Steppdecke von meinem Bett. Nathalia ist vor dem Eingang stehen geblieben. Sie hält sich an der Wand fest, um nicht umzukippen und wartet geduldig. Ich breite die Decke an der Schwelle zwischen Zimmer und Garten aus. Nathalia lässt sich sofort darauf fallen, wirft ihre mit Erde verschmutzten Schuhe in die Dunkelheit und wickelt sich in die Decke.
Ich setze mich auf das andere Ende und mustere Nathalia einen Moment. Ihre brünetten Locken sind zerzaust und ein vertrocknetes Blatt hat sich in ihrer Mähne verfangen. Sie trägt keine Strumpfhose mehr und ihre Oberschenkel sind voller Kratzer.“Du schaust durchgefickt aus.“
„Halt den Mund!“
Von irgendwo zieht Nathalia ihr Täschchen hervor. Sie kramt eine ganze Weile unkoordiniert darin herum bis sie endlich ein Feuerzeug und einen Joint in den Händen hält.

Ich beuge mich zu ihr und helfe ihr beim Anzünden.

Nathalia macht einen Zug und fängt an zu husten. Ich nehme ihr den Joint aus der Hand und mache einen kräftigen Zug. Wir sitzen schweigend da an der Grenze zwischen Haus und Garten, zwischen ihrem Leben und meinem und warten.