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Jenseits der bekannten Welt | Arianna Roider

Preisträgerin 2021

Gewinnerin der Kategorie 17—20 Jahre

Ich sitze ganz vorne am Bug. An der Spitze des Segelbootes. Dort, wo die Backbord- und die Steuerbordreling aufeinandertreffen, ist ein kleines Brett angebracht. Und da sitze ich und spüre den Wind in meinem Gesicht. Wie eine zarte Hand streicht er über meine Haut und und lässt meinen langen bunten Rock flattern. Ich rieche das Meer, salzig und unendlich weit. Das Wasser, das gegen den Rumpf prallt, schickt feine Wassertropfen zu mir hoch und kühlt meine Haut, denn trotz des Windes strahlt die Sonne heiß herunter und lässt die Wellenkämme glitzern wie Edelsteine.

Die Horizontlinie verschwimmt fast zwischen dem Blau des Meeres und des Himmels. Hinter mir blähen sich die Segel im Wind. In der Ferne springen zwei Delfine aus dem Wasser. Ich beobachte sie bei ihren Kunststücken, bis sie wieder in den Tiefen des Ozeans verschwinden. Ich schließe die Augen und recke lächelnd meine Nase in den Wind. Ich fühle mich frei. Es ist einer dieser Tage, an denen alles stimmt, die ganze Welt toll ist und ich am liebsten über das Deck tanzen möchte, weil ich aus keinem bestimmten Grund einfach happy bin.

Ich atme tief ein und genieße die Stille, nur das Rauschen des Meeres ist zu hören. Plötzlich wird die Beschaulichkeit durch Schritte unterbrochen. Eine kühle Hand legt sich auf meine Schulter.

„Na?“, höre ich eine Stimme. Sie gehört meinem großen Bruder. Ich drehe mich um. Charlie lächelt. „Hast du die Delfine gesehen?“ Ich nicke. „Die ersten seit zwei Wochen.“ „Wir ankern in der nächsten Bucht“, informiert mich Charlie. Mit meinem Blick folge ich seinem ausgestreckten Finger. Direkt auf unserem Kurs, gerade so erkennbar, zeigen sich die Umrisse einer Insel in der Ferne.

Die Sonne färbt den Himmel schon orange, als die Insel endlich langsam größer wird. Bald schon kann ich einen langen weißen Streifen am Rand erkennen: ein wunderschöner Sandstrand, umgeben von Palmen, zieht sich um die halbe Insel. Pietro am Steuer lenkt genau auf die andere Seite. Dort ist die Landschaft uneben. Die Wellen, die unser Schiff verursacht, schlagen gegen hohe Felsen.

Ich klettere von dem kleinen Holzbrett und schlendere zum Heck zu Pietro. Er steht am Steuer und blickt konzentriert nach vorne. Als ich komme, lächelt er mir zu. „Bereit zum Ankern?“ Ich nicke.

„Hier waren wir noch nie, oder?“, frage ich. Pietro legt die Stirn in Falten. „Hm, nicht, dass ich wüsste. Aber … diese Insel … sie ist seltsamerweise auf keiner einzigen meiner Karten eingezeichnet, aber sie kommt mir doch irgendwie bekannt vor. Warte mal. Ich glaube, ich war hier schon mal. Ja, genau! Hier bin vor dreißig Jahren gestrandet. Ein ziemlich wilder Sturm hat damals mein Segel zerfetzt und wie durch ein Wunder ist diese Insel hier aufgetaucht und hat mich gerettet. Ja, ja, das war hier.“
„Das hast du mir noch gar nie erzählt“, stelle ich fest und stemme die Hände in die Hüfte. „Stimmt.“ Etwas verwundert kratzt sich Pietro an seinem Dreitagesbart. „Weil ich mich an diese Geschichte bis gerade eben nicht mehr erinnern konnte.“ „Das glaube ich nicht!“ Ich runzle die Stirn. „Sonst merkst du dir immer alle Geschichten, die du erlebst oder erzählt bekommst.“ 

Ratlos zuckt Pietro mit den Schultern. „Ich werde eben auch langsam alt. Hol mal Charlie. Wir sind gleich da. Und der Anker wirft sich nicht von selbst aus!“ Ich nicke und brülle über das gesamte Deck: „CHAARLIIIEE!“ Sein sandfarbener Haarschopf taucht in der Einstiegsluke auf. Pietro verdreht seufzend die Augen. „Ich sagte, du sollst ihn holen.“ „Hab ich doch!“

Langsam wird der Himmel dunkler und die ersten Sterne funkeln zum Schiff herunter. Ich sitze auf der Sitzecke am Heck und gehe meinen Gedanken nach. Pietro setzt sich zu mir. Er hat seine Grübler-
miene aufgesetzt und blickt zuerst auf das Wasser und dann in meine Augen. „Das alles hier ist so seltsam“, sagt er mehr zu sich selbst. Ich blicke ihn fragend an. „Ich habe alle Karten nach der Insel abgesucht, aber“, er seufzt. „Nichts. Schon vor dreißig Jahren ist mir das ein bisschen komisch vorgekommen, aber da habe ich nicht großartig darüber nachgedacht. Ich war ja größtenteils damit beschäftigt, zu überleben und mein Boot zu reparieren.
Ja, und als ich ein paar Jahre später wieder an der Stelle vorbeigekommen bin, habe ich gar nicht mehr gewusst, dass es diese Insel überhaupt gibt.“
„Aber jetzt weißt du es wieder?“ „Ja, das ist mir vorher eingefallen. Als ich die Insel gesehen habe. Und noch etwas ist mir eingefallen. Pass auf, jetzt wird es richtig seltsam: Damals, als mich diese Insel vor dem Sturm gerettet hat, war ich im Pazifik unterwegs. Und jetzt sind wir im Atlantik.“ „Schon irgendwie schräg“, stimme ich zu und im selben Moment wird mir klar, dass das die Untertreibung des Jahrhunderts ist. „Und was machen wir jetzt?“ Pietro zuckt mit den Schultern.

„Weiß noch nicht. Morgen gehen wir auf jeden Fall an Land. Unsere Vorräte werden schon langsam knapp. So, ich gehe jetzt ins Bett. Übernimmst du die erste Ankerwache?“ Ich nicke und sehe zu, wie Pietro unter Deck verschwindet. Dann mache ich es mir mit einem Polster gemütlich und betrachte die Sterne. Pietro hat mir alle Sternbilder gezeigt, die er kennt. Ziemlich viele. Ich bleibe bei meinem Liebling hängen: Kassiopeia. Das Sternbild meiner Mutter. Nach einiger Zeit stehe ich auf und drehe eine Runde an Deck. Bis auf meine leisen Schritte und das Plätschern des Meeres ist nichts zu hören. Kein Wind, keine knarrende Takelage, keine kreischenden Möwen. Ich blicke über die Reling. Rabenschwarz liegt das Wasser unter mir. In der Nacht ist nichts von dem Leben und der Farbenpracht in seinen Tiefen zu erkennen.

Ich beende meinen Rundgang und vertreibe mir die restliche Zeit mit meinem MP3-Player. Kurz nach ein Uhr wecke ich Pietro und verschwinde in meiner
Koje.

Wir sitzen zu dritt im Beiboot unseres Schiffes.
Pietro rudert. Ich lehne mich nach vorne und lasse meine Fingerspitzen durch das Wasser gleiten. Der Wind hat aufgefrischt und bläst mir meine Haare ins Gesicht. Die geheimnisvolle Insel kommt immer näher. In der Bucht, in der wir das Beiboot an Land ziehen, gibt es einen kleinen Strand. Ich ziehe meine
Sandalen aus und male Kringel in den Sand. Seit fast zwei Wochen habe ich keinen richtigen Boden mehr unter mir gehabt.

Wir folgen einem schmalen Weg, der sich zwischen Bäumen hindurch schlängelt, bis wir auf die ersten Hütten treffen. Sie sind aus Bambus und Holz gebaut und mit Schilf bedeckt. Ein kleines Dorf liegt auf einem großen Platz aus Lehm. Die Bäume rundherum wachsen so hoch in den Himmel, dass sie wie ein großes Dach über dem Dorf liegen. Es ist angenehm kühl und ein süßer Duft nach exotischen Früchten und unberührter Natur liegt in der Luft. Pietro blickt sich ehrfürchtig um. „Das sieht aus wie vor dreißig Jahren!“

Während Pietro und Charlie einen Supermarkt suchen, blicke ich mich mit dem Auftrag, einen Ort zum Mittagessen zu finden, im Dorf um.
Von irgendwoher höre ich Vogelgezwitscher.
Ich blicke hoch in die Baumkronenkuppel, kann aber keinen einzigen Vogel entdecken. Sonst ist es leise. Keine Menschenseele ist auf den Wegen
zwischen den Hütten unterwegs. Es ist ein wunderschöner Ort. Voller Ruhe und Freiheit. Es ist einer der friedlichsten Orte, an denen ich bisher war.
Ich atme ein und aus und weiß, ein neues Top-Fünf-Mitglied meiner Beste-Orte-der-Welt-Liste gefunden zu haben. 

Ich gehen weiter. Am Rand des Dorfes liegt ein kleiner
Dorfplatz, der im Halbkreis von Hütten umgeben ist und auf der anderen Seite in Bäume übergeht. Auf einem etwas größeren Häuschen ist ein Schild angebracht. Barny‘s steht darauf. Ich trete ein.
Es handelt sich um eine winzige Dorfschenke. Statt Fenstern aus Glas sind auf der Vorderseite einfach schaufenstergroße viereckige Löcher in der Wand. Wie in einer Ritterburg, fällt mir auf. Nur viel größer und mit Bambus umrahmt, statt Stein. Ich beschließe, die Dorfschenke zu mögen. Sie ist gemütlich eingerichtet. Einige Tische und eine Bar, allesamt aus Bambus. Gerade ist niemand hier, außer ein Mann hinter dem Tresen, der wohl der Inhaber sein muss, und eine Person auf einem der Barhocker.
Ich schlendere nach vorne und setze mich dazu.
Beide blicken mich etwas seltsam an. Naja, wenn man unter etwas seltsam einen Gesichtsausdruck meint, den Wüstenbewohner haben, wenn ein Eisbär in ihrer Oase vorbeischaut. Ich versuche zu lächeln.

Der Mann hinter der Bar hat einen dunklen Vollbart und Haare, die wohl schon ewig keinen Kamm und keine Schere mehr gesehen haben. Dazu trägt er ein dreckiges Hemd und löchrige Jeans. Der Junge
neben mir ist fast noch schräger. Er ist ungefähr in meinem Alter und steckt in etwas, das aussieht wie ein beiger Safari Anzug, kombiniert mit blau-
weißen Turnschuhen. Nach einigen Momenten durchbricht der Barkeeper die Stille. „Wo kommst du denn her?“ Ich blicke unsicher zwischen den beiden hin und her. „Vom Schiff …“ Es ist mehr eine Frage,
als eine Erklärung. „Welches Schiff?“, erkundigt sich der Junge. „Äh, das von meinem Onkel. Wir sind gestern Abend hier vor Anker gegangen.“ „Ihr seid was?“ Der Barkeeper bekommt große Augen. Angewidert wische ich mit meinem Ärmel seine Spucke aus meinem Schoß. Aber anstatt auf meine Antwort zu warten, stellt er das Glas beiseite, das er gerade geputzt hat und beginnt, leise mit dem Jungen zu tuscheln. 

Ich versuche zu verstehen, was sie reden, höre aber nur Grummeln. Es braucht ein paar Sekunden, bis ich erkenne, dass das Grummeln nicht von ihnen kommt, sondern aus dem Boden. Das Getuschel verstummt. Entsetzt blicken sich der Junge und der Mann an. Was passiert hier? Ein einzelner Windstoß bläst durch die scheibenlosen Fenster. Wenn es vorher draußen schon still war, dann ist es jetzt totenstill. Kein einziger Laut kommt mehr von draußen. Kein Blätterrascheln, selbst die Vögel zwitschern nicht mehr. Die Stille ist gruselig. Der Frieden von vorhin ist verflogen. Jetzt wirkt der Ort regelrecht bedrohlich. Das Grummeln wird lauter. Ganz im Gegensatz zu mir scheinen der Barkeeper und der Junge zu wissen, was hier vorgeht. Das Grummeln ist nun so laut, dass es sich anhört, als wäre unter uns ein Sägewerk, das den Auftrag bekommen hat, den kompletten Regenwald zu Kleinholz zu zerhacken. An einem Nachmittag. Und dann kommt das Beben. Zuerst nur ganz leicht. Doch bald verstärkt es sich. Ich bin starr vor Schreck. Die gesamte Hütte
wackelt. Ich klammere mich krampfhaft an meinem Barhocker fest. Was soll ich tun? 

Gläser rutschen über die Bar und zerschellen am Boden. Endlich erwacht der Barkeeper aus seiner Starre und brüllt: „Henry! Mädchen! Unter den Tisch!“
Ich brauche eine Sekunde, um meinen Händen zu befehlen, den Barhocker loszulassen, dann springe ich auf und falle fast hin. Es fühlt sich an, als stünden unter uns tausend Presslufthammer in Hochbetrieb. Schnell knie ich mich hin und krieche unter die Bar. Voller Entsetzen beobachte ich, wie draußen am Dorfplatz Lehmklumpen aus Häusern bröckeln. Die Tische in der Schenke bewegen sich, Stühle fallen um. Um uns herum haben sich Scherbenhaufen gebildet. Der Mann versucht vergeblich, rutschende Gläser von der Tischkante fernzuhalten. Bald gibt er auf. Es kracht und ich fahre herum, so gut wie das eingequetscht unter einer Bar möglich ist. 

Ein Tisch hat dem Beben nicht mehr standhalten können. Was wenn das ganze Haus einstürzt? Sollten wir nicht eher nach draußen? Ich will mich gerade an die anderen wenden, als ich spüre, dass der Boden ruhiger wird. Das Rütteln wird schwächer. So schnell wie es gekommen ist, ist das Beben auch wieder weg. Ich bleibe noch kurz sitzen und verdaue den Schreck. Meine Hände zittern, als ich mich langsam wieder aufrichte und mir dann auch noch den Kopf an der Bar stoße. Vorsichtig mache ich einen Schritt nach dem anderen und folge dem Mann und dem Jungen, Henry, nach draußen. Kommt das hier öfter vor? So wie die beiden reagiert haben, haben sie darin schon Erfahrung.

Draußen laufen überall verängstigte und entsetzte Menschen herum. Auf den Straßen herrscht Chaos.
Überall liegen Lehmklumpen und Schilfhalme. Eine Frau, die ein schreiendes Kind an der Hand hält, ist den Tränen nahe. Das Dach ihres Hauses ist halb eingestürzt. Alles liegt in Trümmern.

Ich beginne zu laufen. Ich will nur noch so schnell wie möglich zu Charlie und Pietro. Wir wollten doch nur einen kleinen Ausflug auf eine idyllische Insel machen! Im Laufen schnappe ich ein paar Gesprächsfetzen auf. „Nicht schon wieder!“ „Es wird immer stärker! Wenn das so weitergeht …“ „… ist vorbei. Bald sind wir verloren …“

Kurz vor dem Supermarkt erkenne ich Charlie zwischen den Menschen. Ich renne zu ihm und werfe mich in seine Arme. „Alles klar bei dir?“, fragt er. Mein Herz schlägt noch immer wie wild. Trotzdem nicke ich und blicke mich um. „Wo ist Pietro?“ Doch bevor Charlie antworten kann, habe ich ihn schon entdeckt. Er hilft einer Familie, Scherben aufzusammeln.

Nach einigen Minuten haben wir den ärgsten Schreck überwunden. Charlie gibt mir einen kleinen Schubs. „Komm, packen wir mit an.“

Ein paar Stunden später falle ich völlig erschöpft in einen Sessel an einem von Barny‘s heilen Tischen. Mein schönes weißes T-Shirt hat ziemlich viel Dreck abbekommen. Henrys Safari Anzug sieht nicht besser aus. Wir sitzen uns gegenüber, als der Barkeeper an uns vorbeigeht. „Hey, Barny!“, ruft Henry. „Eine Limo, bitte!“ Ein fragender Blick in meine Richtung, ein müdes Nicken meinerseits, und Henry bestellt gleich noch eine dazu. Mit einem Seufzer lehne ich mich zurück.

Henry dreht sich zu mir mustert mich. Ich verschränke die Arme. „Was ist?“ „Du und die beiden anderen, ihr seid heute hier an Land gegangen?“ Er fragt das, als ob es eine völlig skurrile Sache wäre. Ich runzle die Stirn und nicke etwas skeptisch. „Siehst du ja.“

Die Dorfschenke ist inzwischen voll besetzt. Das ganze Dorf ist gekommen, um einen Schluck zu trinken und das eben Geschehene zu verarbeiten. Mir fällt auf, dass alle außer Henry, Barny, und zwei andere dunklere Haut haben als wir. Da kommen auch Charlie und Pietro herein. Während Charlie zu mir schlendert, macht sich Pietro auf den Weg zur Bar. Ich beobachte ihn bei einem kurzen Wortwechsel mit Barny, der kurz darauf die Augen aufreißt, die Arme ausbreitet und alle übertönend ruft: „Pietro, alter Junge! Lange nicht mehr gesehen!“ 

Die beiden umarmen sich und kommen dann, schon tief in ein Gespräch vertieft, zu uns herüber. Pietro grinst von einem Ohr zum anderen. „Barny, darf ich vorstellen, das sind mein Neffe Charlie und meine Nichte – “ Er wird durch einen lauten Ruf von Henry unterbrochen. „Leon?!“ Im ersten Moment denke ich, er meint mich, aber die anderen vier blicken alle gleichzeitig zum Eingang. Ein großer Junge mit dunklen Haaren kommt direkt auf uns zu. Henry springt auf und begrüßt ihn mit Handschlag und Umarmung. „Was machst du denn hier?“ „Ich hab Ferien“, erklärt Leon und begrüßt auch Barny.

„Und bei uns in der Stadt ist es so sterbenslangweilig. Ich brauche ein Abenteuer!“ Schlagartig wird er ernst. „Auf der Insel sieht es aber gar nicht gut aus. Hat es schon wieder …?“ Henry nickt. Doch sein Blick hellt sich auf. „Leon“, sagt er feierlich. „Zum ersten Mal seit zwei Jahren gibt es Hoffnung!“ Er deutet auf mich, Charlie und Pietro. Erst jetzt scheint Leon uns zu bemerken. „Wer ist das denn?“ Dann kapiert er, was Henry angedeutet hat und seine Augen
werden groß. „Das ist ja großartig!“ Ich runzle die Stirn. Wovon, zum Teufel, ist hier die Rede? Und was hat das alles mit mir zu tun?

Leon schnappt sich einen Stuhl und setzt sich zu uns an den Tisch. Charlie nimmt ihm gegenüber Platz. Der Tisch ist voll. Barny meint, er müsse sowieso zurück zur Bar und Pietro begleitet ihn kurzerhand.

Ich blicke zwischen Henry und Leon hin und her. Henry hat blonde Haare, auf denen, zum Glück, kein Safari Hut passend zu seinen Klamotten ist. Er muss ziemlich oft am Strand gewesen sein, denn seine Haut ist ziemlich braun gebrannt, ganz im Gegensatz zum eher blassen Leon. Leon trägt dunkle Klamotten, er dürfte ein oder zwei Jahre älter sein als ich. Gerade sieht er mich und Charlie fasziniert an. Dann spricht mein Bruder aus, was mir schon die ganze Zeit durch den Kopf schwirrt: „Was läuft hier?“ Leon blickt zu Henry. „Sie haben
keine Ahnung?“ Ein Grinsen umspielt Henrys Mund. „Nope, keinen blassen Schimmer.“ Leon seufzt und lehnt sich zurück. „Na dann, macht es euch gemütlich. Es gibt einiges zu erzählen.“

„Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, ist das hier eine … spezielle Insel“, beginnt Henry. „Ach ne, ist uns noch gar nicht aufgefallen“, sage ich. Er überhört meinen Kommentar und redet weiter: „Ihr solltet ein paar Dinge über diesen Ort wissen. Also, erstens: Keiner weiß wieso, aber normale Menschen übersehen die Insel einfach. Sie zeigt sich nur den Inselbewohnern. Und manchmal in besonderen Fällen auch anderen. Wenn jemand Hilfe braucht, zum Beispiel. Oder wenn die Insel selbst Hilfe braucht.“ Ich wende mich an Leon: „ Du wohnst aber nicht auf der Insel, oder?“

„Nope.“

„Und wie kommt es, dass du dann vorher einfach auftauchen konntest? Brauchst du ganz dringend Hilfe? Vielleicht soll dir mal jemand zeigen, wie man sich richtig die Haare kämmt.“ Leon fährt sich durch seine ziemlich verwuschelten dunklen Haare und grinst. „Du gefällst mir.“ Ich ziehe eine Grimasse. Dann verdüstert sich seine Miene. „Nein, ernsthaft jetzt. Ich bin hier geboren“, erklärt er. Ich will schon fragen, was das jetzt damit zu tun hat, als Charlie Schnelldenker schon kapiert hat. „Das heißt, du zählst quasi zu den Inselbewohnern? Und dann kannst du auf die Insel, wann immer du willst.“
Leon zuckt mit den Schultern. „Offensichtlich.“

Charlie scheint den beiden aufs Wort zu glauben, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich meine, unsichtbare Inseln zählen ja nicht gerade zu den Dingen, die einem täglich begegnen. Das klingt schon fast nach irgendeiner Art von Magie oder so. Und Magie gibt es bekanntlich nur im Märchen.

Wollen uns Leon und Henry nur auf den Arm nehmen? Aber nach dem, was vorher auf der Insel passiert ist, das Erdbeben und die seltsame Reaktion auf unser Eintreffen, bin ich mir nicht sicher, ob sie alles nur erfinden, oder ob wirklich ein Fünkchen Wahrheit in der Geschichte steckt.

 „Und wo kommst du her?“, erkundige ich mich bei Leon.

„San Francisco.“

„Was? Aber wir waren doch eben noch im Nordatlantik!“

„Wirklich? Ich glaube, da war ich noch nie“

„Das“, mischt sich Henry wieder ein, „Ist Punkt zwei. Die Insel ist überall und nirgendwo. Sie wandert über die Weltmeere und zeigt sich mal da, mal dort. Wir Inselbewohner wissen meistens selbst gar nicht, wo wir uns gerade befinden.“

„Eben vorher lag die Insel vor der Küste Kaliforniens“, wirft Leon ein. „Das hat aber jetzt nichts mehr zu bedeuten. Wir könnten theoretisch schon längst in Indonesien sein. Da waren wir übrigens schon mal. Echt schön dort.“

„Krass!“, ist das einzige, was mir jetzt noch dazu einfällt. Ich habe beschlossen, den beiden zu glauben, auch wenn die Geschichte verrückt klingt. Da fällt mir etwas auf. Ich drehe mich zu Leon. „Du bist aus San Francisco, richtig?“

„Jap“, bestätigt er.

„Aber wieso verstehe ich dich dann so gut? Ich meine,
du sprichst ja wohl kaum Deutsch, oder?“

„Punkt drei!“, kommt Henry Leon mit der Antwort zuvor. „Egal welche Sprache man spricht, man versteht einander. Ob das jetzt Portugiesisch ist oder Chinesisch, ist vollkommen egal.“

„Es fällt meistens nicht mal auf, dass man unterschiedliche Sprachen spricht“, fügt Leon hinzu und grinst. „So wie jetzt. Sobald man aber das Festland wieder betritt, ist das leider nicht mehr so.“

Ich zweifle kurz an meiner Entscheidung, ihnen die Story abzukaufen. Ich blicke zur Bar, wo Pietro und Barny fleißig Geschichten austauschen. Aber wenn sogar Pietro den ganzen Quatsch glaubt, dann wird er wohl wahr sein.

Vor lauter skurrilen Geschichten habe ich gar nicht bemerkt, dass immer wieder andere Inselbewohner auf uns deuten und uns interessiert mustern. Genau das muss Charlie auch schon aufgefallen sein, denn kurz darauf stellt er die alles entscheidende Frage: „Und was hat das ganze jetzt mit uns zu tun?“

Einen Moment legt sich Stille über unseren Tisch. Eindringlich blickt Henry zuerst Charlie und dann mir in die Augen. „Das wird sich zeigen. Auf unsererInsel gibt es viele ungelüftete Geheimnisse. 

Hier funktioniert Dinge anders, als ihr es kennt. Denn wir sind jenseits der bekannten Welt.“

JENSEITS DER BEKANNTEN WELT

VON ARIANNA ROIDER (15) 

SPRICHCODE 2021