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Flussabwärts | Anna Hackl

Preisträgerin 2021

Gewinnerin der Kategorie 21—25 Jahre

1

Er sieht das Wasser gar nicht mehr. Jeden Tag ist es neben ihm, jeden Tag außer am Wochenende. Jeden Tag seit dreizehn Jahren um sechs Uhr achtunddreißig der kurze Moment, an dem die U-Bahn über die Floridsdorfer Brücke fährt und links und rechts nur Wasser ist. Ein Fluss, dem Menschen Lieder widmen.

Zuhause die Kinder, die Frau, der getrennte Müll und die Rechnungen im Briefkasten. Er in der Bahn. Die Frau, die er nicht mehr kennt. Der Jahrestag, den er immer öfter vergisst. Die Kinder, die herrschsüchtigen. Zuhause, Bahn, Büro, Bahn, Zuhause, es ist ein Zirkus, ein gleichbleibender. Er sieht sich in den wabernden Scheiben der U-Bahn: nur Konturen.

Die Ledertasche auf seinem Schoß. Dokumente oder Leere darin, es ändert nichts. Einmal wollte er mit seiner Schwester einen Drachen bauen, Jahrzehnte her. Stattdessen väterliche Prügel und der mütterliche Auftrag, besser auf die Schwester aufzupassen. Das Piepsen der Bahn, Endstation, Wien Floridsdorf. Steigt aus, kauft Gebäck, Brösel auf dem Hemd. Wischt sich mit dem Handrücken über das rasierte Gesicht. Zuhause der tote Hund im Garten.

Er grüßt den Trafikbesitzer mit der freien Hand, lächelt dabei, sagt einen Satz, würde gerne tauschen, so gerne. Sieht die Schlange vor der geschlossenen Tür. Erwachsene, Kinder. Das Ö von EINWANDERUNGSBEHÖRDE ist abgefallen. Er schaut vorbei, schließt kurz die Augen, während die Beine weitergehen, weiter Richtung Büro. Popsongs und Gummibäume. Grüßt kurz die Kollegin und lässt sich auf den Drehstuhl fallen. Fährt den Computer hoch, schaut aus dem Fenster in den Innenhof. Herbst in den Bäumen, bald kommt der erste Schnee, er hat ein Gespür, aber auf sein Gespür kann er sich nicht verlassen. Öffnet die Datenbank, klickt, tippt, klickt doppelt, tippt weiter, im Radio ein Lied aus seiner Jugend. Er summt nicht mit.

Um Punkt acht der Gong aus der Lautsprecheranlage, von dem er seit dreizehn Jahren träumt.
Er klickt NUMMER BESTÄTIGEN. Der zweite Gong. Drei Nummern warten. Blick auf die Uhr: acht Uhr zwei. Klopfen an der Tür. Er räuspert sich. Eine junge Frau mit Kleinkind. Papiere auf dem Tisch. Aufenthaltsgenehmigungsverlängerung. Er sagt: Sie haben Ihren Arbeitsplatz verloren und seit drei Monaten keinen neuen gefunden, ich kann Ihren Aufenthaltstitel nicht verlängern, Sie haben zwei Wochen, um das Land zu verlassen oder eine Stellungnahme einzureichen. Die Frau schüttelt den Kopf. Er wiederholt den Satz, könnte ihn im Schlaf aufsagen. Sie redet Deutsch, holpert, dann eine andere Sprache.
Es könnte Russisch sein. Er schüttelt den Kopf, stempelt, klickt auf FREMDENPOLIZEI VERSTÄNDIGEN. Die Frau sagt etwas, er sagt nichts, schaut weg. 

Im Radio Werbung für Müsli, das munter macht. Blick auf den Bildschirm: acht Uhr acht. Sechs Nummern warten. Er klickt. Der Gong im Vorraum. Klopfen an der Tür.

2

Um zwölf wieder ein Gong. Er klickt auf ABMELDEN (MITTAGSPAUSE 30 MIN). Fünfzehn unbearbeitete Nummern im Vorraum. Es ist nicht seine Schuld. Geht mit der Kollegin in die Kantine. Das Fleisch ist mager, die Soße fettig. Die Kollegin macht Diät, geht früh. Er sitzt allein am Tisch, denkt an den toten Hund im Garten. An die Kinder, die lieblosen. Schaut auf die Wand, nicht auf das Essen. Dann die Stimme eines Kollegen: Na, was ist, so ganz allein, ist sie leicht schon weg? Er nickt, kaut zu Ende.
Der Kollege jetzt neben ihm, klopft ihm auf die Schulter. Hast heute Abend was vor? Er denkt an die Frau, an die Kinder vor dem Fernseher.

An die Stille, wo vorher der Hund war. Nein, sagt er, bisher nichts geplant. Der Kollege grinst.

Hab ich mir doch gedacht, sagt er, und nochmal, ich hab‘s mir doch gedacht. Dann komm mit, wir gehen direkt nach der Arbeit los, wird dir taugen, sicher sogar, dir ganz sicher. Er nickt.

Um Punkt siebzehn Uhr klickt er auf ABMELDEN (TAG ENDE). Drückt Knöpfe, die alles ausschalten. Nickt der Kollegin zu, die Tasche in den Händen, das Dröhnen im Kopf. Der tote Hund im Garten. Fährt im Aufzug und fragt sich zum ersten Mal, was ihn erwartet. Wohin es gehen wird. Wer dabei sein wird. In den ganzen dreizehn Jahren ist er noch nie eingeladen worden. Wechselt die Tasche in die linke Hand, ballt die rechte zur Faust, beißt die Zähne aufeinander. Entspannt die Hand, entspannt den Kiefer.

Vor der Glastür warten sie auf ihn, der Kollege und zwei Männer, die er nicht kennt. Nicht in seiner Abteilung, oder neu dabei. Vielleicht aus dem zweiten Stock. Er grüßt, sie grüßen zurück, kurze Sätze. Der eine grinst breit, ein Goldzahn blitzt im Dämmerlicht. Er fragt sich, ob ihre Frauen auch nicht mehr auf sie warten. Ob ihre Kinder auch fremde Kinder sein könnten, austauschbare. Ob sie auch vergessen, welcher Tag es ist, welches Jahr.

Und geht schon los, sagt der Kollege aus der Kantine.
Sie gehen los, steigen in eine Bahn. Er bemerkt, dass das Wasser auf der Seite fehlt. Sie fahren stadtauswärts. Er sieht den Goldzahn an. Denkt, dass so ein Goldzahn ein Alleinstellungsmerkmal ist, dass der Goldzahn sich sicher nie unsichtbar fühlt. Sich nie so müde fühlt, als käme nach den geschlossenen Augen sicher bald der Tod. Sie steigen aus,
Siemensstraße. Baumelnde Taschen in den Händen. Der Goldzahn sagt: Gut, dass wir das mal wieder machen, ist ja schon ewig her. Nicken und Grinsen. Er nickt auch, denkt an die unbearbeiteten Nummern im Amt, an die Frau mit dem Kind. Denkt, dass sie sicher untertaucht.

Sie gehen über eine Brücke, die zwei Unbekannten vorne, der Kollege und er dahinter. Er sagt nichts. Hört Murmeln von vorne. Die Bahn von hinten. Eine lange Straße, Reihenhäuser, brennende Lichter hinter Küchengardinen. Er denkt an die Frau, an die Kinder, dass er ihnen nicht einmal Bescheid gesagt hat. Was macht es für einen Unterschied. Vor Reihenhaus Nummer 67 bleiben sie stehen, der Goldzahn klopft an die Tür. Niemand grinst mehr.

3

Die Tür geht einen Spalt weit auf, Murmeln dahinter. Der Goldzahn murmelt etwas zurück, die Tür geht weiter auf. Schwarze Farbe im Gesicht der murmelnden Frau. Ein langes enges Kleid an ihrem Körper, spitze hohe Schuhe. Er geht als letzter hinein. Beißt die Zähne aufeinander.

Sie gehen nach unten. Ein Keller wie keiner, den er je gesehen hat. Dunkle Tücher, abgedunkelte Lampen.
Menschen in Leder oder nackt. Jüngere, ältere.
Der Kollege tippt ihn an. Du kannst machen, was du willst, genieß es einfach, sagt er und geht. Dumpfe Musik, als eine Tür auf- und wieder zugeht. Seine Hand zittert, er zieht das Jackett aus, legt es sich auf den Arm, der die Tasche hält. Eine Frau streift ihn am Schritt, rote Haare, ein Lederband um den Nacken, eine Leine daran. Er denkt an den Hund. An den Tag, als die treuen Augen sich nicht mehr öffnen wollten. An die grinsenden Kinder. An den Schaum um das weiche Maul.

An die Stille, die plötzliche. An die Frau, die Mutter
dieser seiner Kinder, die sich abwandte und im Fortgehen sagte, er solle das tote Tier wegschaffen, so schnell wie möglich.

Die junge Frau mit der Leine um den Hals lächelt fragend. Seine Hände zittern stärker, er sagt nichts. Sie drückt ihm die Leine in die Hand, knöpft sein Hemd auf, schneller, als er es je könnte.

Deutet auf eine Ecke unter der Stiege. Er fragt sich, ob es einen Himmel gibt für Hunde. Lehnt sich an die Wand, warme Hände, warme Haut. Fragt sich, ob alles wahr ist, was er sieht. Denkt an die Frau mit dem Kind im Amt, an ihre Wut, ihre Ohnmacht. Fragt sich, ob die Fremdenpolizei sie finden wird. Ob wenigstens das Kind bleiben kann.

Es ist Nacht, als er die Reihenhaustür hinter sich zuzieht. Geht die Straße entlang, schaut die anderen Reihenhäuser an. Fragt sich, was in den anderen Kellern passiert. Wie viele Nachbarn wissen, was im Reihenhaus 67 vor sich geht. Geht langsam zur Bahn. Steigt ein. Merkt, dass er Jackett und Tasche vergessen hat. Geld, Fahrschein, Schlüssel. Lehnt sich zurück. Fragt sich, wie viel ein Goldzahn kostet.
Schaut aus dem Fenster. Dumpfes Rattern, als die Bahn über die Brücke fährt. Links und rechts das Wasser.

FLUSSABWÄRTS

VON ANNA HACKL (25) 

SPRICHCODE 2021